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Der Schreibabend im Kunstforum Waldkirch
Wer nicht nur „Kunst“-interessiert ist, sondern auch gerne schreibt, ist beim „Schreibabend in der Ausstellung“ richtig. HHier treffen sich im Rahmen der Ausstellungswochen Interessierte um 20 Uhr in lockerer Atmosphäre, meist ein Freitag- oder Samstagabend, erfahren etwas über die ausstellenden KünstlerInnen und machen ihren eigenen, individuellen und ungestörten Rundgang durch die Räume. Wo es spannend wird, zieht man einen Stuhl heran und hält die Eindrücke, Impulse etc. schriftlich fest.
Nach ca. einer Stunde trifft sich die Runde wieder im Foyer beim Glas Wein. Dann zieht die Gruppe gemeinsam durch die Ausstellung und alle lesen vor dem betreffenden Ausstellungsobjekt (Skulptur, Gemälde, Zeichnung, Installation etc.) ihren Text-Rohentwurf den anderen vor. Das führt meist bis ca. 23 Uhr zu anregenden Gesprächen. Alle notieren sich noch Raum- und Bildnummern sowie Bildtitel und machen Hand-Fotos davon. Zu Hause überarbeiten alle ihre Texte und schicken sie inclusive Handyfoto und Daten zur Aufbereitung für die GSH-Homepage an Roland Burkhart.
Am Finissagesonntag gibt es eine öffentliche Lesung der Texte. Die AutorInnen ziehen mit dem interessierten Publikum dazu gemeinsam durch die Ausstellung. Die eingeladenen Künstler-Innen freuen sich über Kopien der oftmals überraschenden Elaborate.
Anmeldung bei Roland Burkhart, Tel.: 07681 / 492290, E-Mail: info@roland-burkhart
Zu Wagner, alle Zeichnungen
„Bildbetrachtungen am Schreibabend“ von Cornelia Holocher
Oh, was ist das? Sind das etwa Bleistiftzeichnungen? Radierungen? Ich
bin wie vom Donner gerührt. Selbst verstehe ich mich auch als
Zeichnerin, aber das? Ich empfinde Wucht von den großen Bleistiftzeichnungen, die mich anspringt. Aber nicht negativ. Nein, berührende Wucht, die ich im Brustraum als helle, begeisternde Aufregung spüre.
Ein kurzer Blick aufs ganze Bild, dann muss ich unbedingt ganz nah
dran, um mir zu bestätigen, dass es wirklich mit Bleistift gezeichnet ist.
Der kleine Bleistift, der harmlose.
Aber hier scheint er wie eine autarke Maschine das Papier zu beackern,
zu attackieren, hin und her zu springen wie der Besen des
Zauberlehrlings. Mit unbändiger Spontaneität und Bewegung wie ein
Tänzer, aber auch mit ganz genauem Strich wie durch einen Automaten
gezogen. Der kleine Bleistift, der harmlose.
Das große Format gefällt mir! So muss es sein für die Felswände,
Maschinen, Paläste, Gebäudeviertel, Fassaden, Säulen, so
überzeugend. Die Schraffuren wie von Bildhauerhand gestaltet, lassen
die Dreidimensionalität aus dem Bild ragen. Und die Töne vom tiefsten
Schwarz, bis nur noch zu einem geahnten Grau, die allem ihre Plastizität
geben, auch dem Wasser.
Der kleine Bleistift, der harmlose.
Es berührt mich aber auch die Idee, dem letzten in Deutschland
geschossenen Wolf aus dem 19. Jahrhundert, in der großen Zeichnung
des abgezogenen Balgs seine Hochachtung zu bezeugen.
Mal drönt es laut aus den Bildern, mal ist es ehrfurchtsvoll still, mal hört
man Vogelgezwitscher.
Der kleine Bleistift, der harmlos scheinende.
„Der letzte Wolf in Hessen“, Wagner
„Ein Wolf“ von Ilse Reichinger
Da hängt es das Fell des Schönen. Es sieht so lebendig aus, hellgrau gelb, dunkle Zeichnungen. Von der Abendsonne hervorgeholte rostrote Schattierungen. Der Canis Lupus Occidentalis Eurasische Wolf.
Das Sendehalsband Nummer 19 hatte einige Daten gespeichert. Er wurde in Tschechien geboren. Als Welpe und Jährling lebte er behütet in einem Rudel. Der erwachsene Wolf musste gehen um sein eigenes Leben zu finden. Wie man feststellte, hatte er es bis nach Bayern geschafft. Hier fand er seine Gefährtin. Mit fünf Welpen gründete er ein neues Rudel.
Sie wanderten um Berchtesgaden herum, kamen den Menschen manchmal zu nahe. Fanden Wolfs-pfade, die tiefer in den Wald führten. Rehe gab es genug. Freigabe zum Abschuss von Problem Wölfen. Ein neues Gesetz! Darauf hatte er lange gewartet. „Was sollen wir mit Wölfen in unseren Wäldern. Keiner traut sich mehr hin.“
Herr Söderlich holte höchstpersönlich seinen Hengst aus dem Stall, musste ja niemand wissen, den Stutzen im Schaft, galoppierte er in den Auenwald. Einen wird er finden.
Er ritt lange, der Wald wurde dichter und dunkler. Föhren, Fichten Tannen Buchen. Äste griffen, schlugen nach ihm. Er fand die Hütte die er kannte. Vorsorglich hatte er seinen Schlafanzug mitgenommen. Die wuchtige Holztüre war schwer, sie ächzte beim Öffnen. Die Taschenlampe leuchtete schummrig. Er fand einen Lichtschalter. Ein Bett, ein Ofen, ein Tisch ein paar Stühle. Wo kam der Strom her? Das würde er morgen herausfinden.
Nachts konnte er nicht schlafen. Es tapste, schnüffelte grunzte kratzte. In der Nähe bedrohliches Wolfsgeheule. Gegen fünf Uhr in der Frühe hielt es ihn nicht mehr im Bett. Er zog sich eilig seine Jägertarnjacke an. Schlafanzughose und seine karierten Hauspatschen ließ er an.
Den Stutzen im Anschlag verließ er die die Hütte.
Es ging sehr schnell. Zwei helle Augen vor dem Gebüsch. Treffsicher schoss er mittig hinein. Ein kurzes Aufheulen das wars.
Die Überlebenschancen des kleinen Rudels hängen vom Geschick der Fähe ab. Sie muss unbedingt ein gutes Versteck finden, weg von der Hütte. Während der Jagd ist sie gezwungen die Welpen zurückzulassen.
„Portal 5“, Naves
„Der Freiburger Münsterplatz – einmal anders“ von Roland Burkhart
Ich weiß noch, wie ich als 14-Jähriger auf der linken Seite des Münster-portals in der Steinmauer den Umriß eines Brotlaibs entdeckte, damals gut sichtbar und in Kopfhöhe. Seit Jahrhunderten war und ist rund um das Münster der tägliche Umtrieb eines typischen Marktplatzes. An dieser bestimmte Stelle beim Freiburger Münster standen früher immer die Brot-verkäufer. Wenn einem Kunden das angebotene Brot für den genannten Preis zu klein erschien, hielt der Bäcker den Laib an diesen Stein und der Käufer war zufrieden: Der Umriß entsprach genau einem Kilogramm Brot. Er ist noch heute an der Außenwand zu sehen. Spätestens seit es Digital-waagen gibt, hat er seine Bedeutung verloren. Heutigen Marktplatzbesu-chern sagt er nichts mehr. Noch immer reihen sich rund um das Münster Buden und Verkaufsstände für Lebensmittel, Blumen undKinderspielzeug.
Anders als auf dem Gemälde hier: Dieser grell-hell erleuchtete Eingang des Portals, davor die drei einsamen Säulen, auf dem weiten Platz nur ein einziger Mensch, taghell beleuchtete Schaufensterreihen am Ende des Marktplatzes. Was für ein Gegensatz?
Über dem Portal erhebt sich der „schönste Turm der Christenheit“, wie behauptet wird. Uns Jugendliche interessierten die vielen, vielen Stufen, die wir bis zum Glockenplateau hoch rannten, und der Platz, wo die größte Glocke, die „Hosianna“, hing. Kurz vor zwölf Uhr wollten wir immer oben sein. Furcht einflößend und Schauder erregend war das Knarzen und Knorren im Holzgebälk, wenn das Geläut begann. Da fehlte nur noch der Riese mit dem Hammer in seiner Pratze, der den tiefen, lang nachhallenden Basston auf der mächtigen Hosianna schlug. Und danach noch der ungewohnte und beeindruckende Blick von oben auf die vielen, von Bude zu Bude eilenden ameisengroßen Menschlein, zu denen wir vorher noch selbst gehört hatten.
Gespenstisch die Leere auf dem Gemälde – welch ein Gegensatz dazu meine jugendlichen Erinnerungen.
„Münster 3“, Naves
„Münster in Armut“ von Roland Burkhart
Sie haben alle Kirchenbänke des Freiburger Münsters zersägt und abtransportiert. Es sind arme Zeiten wie fast im Mittelalter und die Menschen frieren in Freiburg. Ihre Öfen brauchen bei dieser Eiseskälte Futter. Zahlungskräftige Touristen, die früher in die Kirchen strömten und sie bewunderten, gibt es ja längst nicht mehr. Die Sakristeifenster sind über die Jahre blind geworden und nun voller Spinnweben. Die Glocken und die Orgelpfeifen sind der Kriegswirtschaft zum Opfer gefallen und eingeschmolzen worden. Einzelne Glasfenster im Chorraum sind noch dicht und erstrahlen in einem Sonnenlicht, als wäre nichts gewesen. Wie früher, als die Kirchenbänke noch da standen und weiche Sitzkissen und Polsterbahnen den Gottesdienstbesuchern den Aufent-halt angenehmer gestalteten. Als noch rechts und links in den Seitenaltären Kerzen mit ihrem ruhigen Licht die Herzen der Gläubigen erwärmten. Wo sind nun die Herzen und die Kerzen? Kein Bischof besteigt mehr das schmale Kanzeltreppchen, das rund um die Kanzel nach oben führt, wo das Wort Gottes ver-kündet wurde. Vorbei, vorbei. Es ist einfach kalt und feucht im Münster. Drinnen tropft es durchs undichte Münsterdach und draußen ist eben Winter und Kriegszeit.
„Vorposten“, Wagner
„Vorposten – für was?“ von Roland Burkhart
Ein Vorposten, irgendwo in die freie Natur gesetzt, ein Blech-kasten. Keiner drin. Lange steht der noch nicht, wenn sich auch schon die ersten Pflanzen seitlich an ihn schmiegen. Er stört sie nicht. Aber wen soll er beeindrucken? Hat vielleicht jemand die gewisse Tür offen stehen gelassen. Eine Art „Dixi-Klo“ für Waldspaziergänger?
Aber – was soll diese runde Haube oben auf dem Dach? Falls es nur ein Wachhäuschen ist, ist es vielleicht auch für besonders große, aufrecht stehende Wachmänner gedacht, deren aufgeschultertes Gewehr ja ein Stück über den Helm hinausragt?
Blitzschnell kann er, geduckt ins Freie .das gehörte verdächtige Geräusch mit suchendem Gewehrlauf erspähen: „Stehn bleiben oder ich schieße!“ Sein Ruf kann die Maus unter dem Blätterwust neben dem Blechkasten fast zu Tode erschrecken – bei diesem wüsten und bedrohlichen Tonfall verschwindet sie blitzschnell im Mauseloch. Für was und für wen steht dieses Unikum also da?
„Vorposten“, Wagner
„Sowas aber auch“ von Franz Mutterer
so was aber auch
damit hab ich nicht gerechnet
und das auch noch im Garten
Nein, nicht mitten im Garten, etwas abseits
Also jetzt erst mal zurück zum Anfang
das war die Notwendigkeit im Garten für Ordnung zusorgen
Rasen, Hecken,Gestrüpp das übliche Gewuchere
da musste was geschehen
erst mal mähen, dann schneiden und schnippeln
es ist noch nicht so hoch das Gras, also mulchen
kommt mir entgegen, muss nichts aufsammeln
ohne Fangsack rasanteres Rasenmähen
„ schneid nicht alles kurz und klein,
denk an die Krokusse , die müssen sich noch zurückziehen
lass sie stehen „
ja, ja, die Krokussinsel wie jedes Jahr und ein paar Gänseblümchen
lass ich auch stehen, auf jeden Fall
Sind sie weg schimpft Lilly mit mir
„Opa, warum hast du das gemacht ? „
So die großen Flächen sind geschafft. Pause, ein riesiges Apfelschorle, das
tut gut. Jetzt aberran an die Büsche, da hinten beim Baum. Wann war ich
da zuletzt? Schon länger her. Beim Steintreppchen, da könnte man noch
einen Ausruplatz haben. Schnipp- Schnapp mit der Heckenschere wieder
und wieder,schnip-pleng. Oh das hört sich nach Blech an.was liegt denn
da?
Ich schiebe die verbliebenen Zweige zur Seite, schaue in die Ecke,
in diese Pleng Ecke. Ein Blechteil das noch glänzt. Wer hat das da
hingeworfen? Das muss erforscht werden!
Weiter Äste abschneiden,das Zeug zur Seite tragen, auf einen Haufen. Schwitzen,
hinsitzen, noch eine Schorle und weiter gehts. Kurz die Lage sondieren. Ist ja ganz rund wie ein Wok. Festgeschraubtauf einem Holzkasten. Weiter, ich möchts wissen.
Der Kasten wird größer, ein Häuschen mi Tür. Oh Mann, nochmal Pause.
Nur noch Sprudel da, der Apfelsaft ist alle.
Ich muß die Tür frei bekommen. Die Kelle wird mir helfen, also geschwind
zum Gartenhaus sie holen.Jetzt wird erst mal frei gekratzt. Dreck und Steinchen
landen neben dem Häuschen. Es ist gar nicht mal so viel. Und jetzt?! Wo ist der
Türgriff ? Nicht da . Dann der Türspalt, eher ein schmaler Schlitz, da aufdrücken.
Ach was, nicht aufdrücken, sie schnappt förmlich auf als ich die Kelle flach
hineinschiebe, konnte gerade noch zurückspringen.
So ein kleines Häuschen im Garten, Donnerwetter, und ich muss dringend
pinkeln.
„Der gefallene Centurio“, Wagner
„Julius“ von Franz Mutterer
Tja mein Lieber
und wenn Du dich auf den Kopf stellst
Deine Zeit ist vorbei, längst vorbei
Deine Macht auch, weg, futsch, aus, basta
Wie war das mit dem Ende?
Ach ja, die Sache mit Brutus
die Welt ging weiter, Trümmer bleiben und Ruinen
du im Dreck, Nase weg
Hast du eigentlich noch Kontakt zu uns, zum Heute
so von oben herab geblickt
neue Herrscher machen Trümmer, Ruinen und Not
siehst Du sie , deine Nachfolger, was sie so treiben
Vernichtung, Elend, Hunger und Tod
soll `s so weitergehen?
„Skalitzerstr. 2“, Naves
„Heim gehen“ von Franz Mutterer
an der Hochbahn vorbei
die Hochbahn an mir vorbei
durch die feuchte, nasse Stadt
gleich setzt ich den Schuh aufs Pflaster
das schon immer da ist
die Hochbahn auch
das Laternenlicht gelb
leuchtet es auch im Asphalt
und hinten die Platten
auf meiner Seite Altbauten
Mietshäuser, noch billiger
wie lange noch mein zu Hause
„Paar“, Aaron Antes
„Paar“ von Roland Burkhart
Das ist der (Holz-)Boden der Wirklichkeit eines rundum gelebten Paarlebens. Gemeinsam wuchsen seine Zeit und nah verschmolzen damit die erotischen Bedürfnisse des Paares zueinander. Im Laufe aufsteigender Jahre verflüchtigten sich diese, sind zwar Basis des jungen Paarlebens gewesen, vibrieren immer noch, nun im Alter in hauchdünnem Abstand, kaum sichtbar, aber spürbar die zärtliche Nähe und Wärme. Spannende Nahwärme, aber ohne Berührung. Sie legten sich wie Jahresringe um den Holzkern. Beide schauen sich in gleichförmig gewordene, klare Gesichter. Sie gingen einen langen gemeinsamen Lebensweg mit je eigenen Kindheitsängsten und -freuden, mit Jugendsprüngen und spannenden Paar- und Elternzeiten, mit Berufserfolgen und -misserfolgen. Sie fanden zu immer mehr Nähe ohne Verlust von Eigenleben. „Schau mich an!“, sagt jedes Altgesicht dem anderen. „Sieh meine Schultern, die das „Tragen“, ja das gemeinsame und biegsame Tragen in steter Anpassung gelernt haben“: Geburt und Tod, Glück und Trauer, Enttäuschung und Aufatmen, klammer Beziehungswiederaufbau, stille Pflege des Schönen, völliger Verzicht auf hohles Blech und dummes Blendwerk.
Sind wir beide nicht aus demselben Holze geschnitzt?
„Ohne Titel“, Johannes Traub
„Gesicht im Wasser des Abendlichts“ von Roland Burkhart
Was schwimmt da auf dem Wasser des Sees, wenn ich abends dran vorbeischlendere?
Die Entenschar, die eben noch friedlich hier paddelte, ist aufgeflogen, als ich zu nahe schien. Hektisches FORT-FORT-Geflatter! Und zurück auf der Wasseroberfläche bleibt ein Gebilde, sanft beschienen vom Abendlicht. Merkwürdig und rätselhaft.
Das Auge, da links, ist dabei sich zu öffnen. Der helle Nasenrückenstreifen, wird nach unten breit wie Pferdenüstern. Das zweite Auge glitzert unter seinem dünnen, schwungvollen Brauenbogen. Ui,ui,uih! Die Lippen sind verzehntfacht und ziehen sich von Ohr zu Ohr. Die Wangen sind ballrund und wollen ja das ganze Gesicht einkreisen. Sieht sich der Betrachter hier selbst im Wasser? Ich?
Gemach! Gemach! Für einen Moment war hier ein fließendes, fliegendes PhantomGesicht, das beim Weiterlaufen schon wieder verschwunden ist.
„Vater 1“, Aaron Antes
„Vater“ von Susanne Hoffmanns
Im Traum erschienen
hinter einem fernen fahlen Schleier
weit weg die hohe Stirn
ohne Leuchten die Augen
der Blick suchend und sich verlierend
so oft an mir vorbei ins Leere gegangen
auch Nase und Lippen ohne Ziel
so wenig gesprochen mit mir
so selten geatmet für mich.
Vater?
Bist du Ich?
Bin ich Du?
Vater!
„Skulptur Nr.11“, Aaron Antes
„Die Zukunft: Der Versuch einer ständigen Entschlüsselung“, 2020, von Susanne Hoffmann
Lange Zeit suchte ich vergeblich die Zukunft
Es gelang mir nicht
Ich konnte den Schlüssel nicht finden
Meine Augen waren zu angestrengt
Ich legte sie in Ketten und die Ohren gleich mit
Mein Kopf verengte sich
Die Angst wuchs und beinahe vergaß ich meine Suche
Dann kam jemand und schloss meinen Mund von außen auf
Und flößte mir ständig etwas ein
Ich hatte Hunger und begierig nahm ich zu mir, was ich bekam
Aber es nährte mich nicht
Es schmeckte seltsam und fremd.
Innerlich wie trügerisch funkelnd
War es in Wahrheit metallisch, voller Kälte und mit rissigen Nägelspänen durchsetzt
Ich hatte große Schmerzen
Dann begriff ich: es war die Zukunft, die in mich hineinströmte
Und dass ich selbst zur Zukunft wurde
Und ich schrie und flehte sie an: Ich will dich nicht!
Nimm den Schlüssel und verschließ mich wieder!
Aber die Zukunft erhörte mich nicht.
Skulpturen, Aaron Antes
„Wahlverwandtschaft“ von Elisabeth Lutz
Solche Großeltern hätte sie sich gewünscht.
Eine Oma mit Lachfältchen um die Augen. Wenn man sie besucht, duftet es schon an der Haustür nach Apfelkuchen, sie zupft die weiße Schürze mit Hohlsaumstickerei zurecht und umarmt uns innig und bittet zu Tisch. Das gute Porzellan mit dem blauen Hyazinthenmuster hat sie aufgedeckt, der Kuchen auf einem Spitzendeckchen und die Sahne in einer Kristallschale. „Kinder, lasst es euch schmecken! Schön, dass ihr gekommen seid!“
Wir fangen immer gleich an zu essen und warten nicht, bis Opa seinen Mittagsschlaf beendet hat. Aber irgendwann kommt er dazu, ausgeschlafen und heiter, sagt absichtlich alle unsere Namen falsch und umweht uns mit seinem Pfeifenqualm, während er Geschichten erzählt, von denen wir nie wissen, ob sie wahr oder erfunden sind.
Solche Großeltern hätte ich gerne gehabt.
Aber ich hatte gar keine. Sie sind gestorben, längst bevor ich geboren bin. Ich kenne sie nur von Schwarzweißbildern. Der Großvater, umringt von vier Männern, die ebenso streng und ernst schauen wie er. Ein Bauer, aber
auch Waisenrichter. Ein Bibelgelehrter, der am Sonntagnachmittag die Bibel studiert und sie am Abend in der Stund‘ für die frommen Besucher auslegt. Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.
Wenn ich sein Bild anschaue, fürchte ich mich ein wenig. Die Großmutter ist nur auf Familienbildern zu sehen. Da sitzt sie neben dem Großvater, hat die Hände im Schoß gefaltet, schaut mit ergebenem Lächeln in die Kamera. Sechs Kinder hat sie geboren. Ob sie auf dem Foto schon schwanger ist mit dem siebten?
Und auch das weiß ich nur aus Erzählungen: dass sie geträumt hat, dass sie bei der Geburt sterben wird. Sie nähte schwarze Kleider für die Kinder, so konnten sie dem Sarg der Mutter angemessen folgen.
So viel Düsternis und Schwere.
Und hier die Heiteren, Liebevollen.
Wirklichkeit und Wunsch.
Und ich – ein Gemisch aus alledem.
Gut.
Gut so.
GABRIELA STELLINO / HEIKE ENDEMANN / 19.01. – 23.02.2025
„Kugelfragment rot“, Heike Endemann
„Was bist Du?“ von Roland Burkhart
Was bist Du?
Die Künstlerin scheint im Anatomischen Institut zu arbeiten. Das prägt. Sie hat hier eine Schädeldecke umgedreht und sichtbar gemacht, was sich in einem Kopf so alles verbirgt: ein Wirrwarr von
– versunkenen Eindrücken,
– zurecht geschnittenen Erinnerungen,
– traumatischen Erlebnissen,
– erschütternden Erziehungsfehlern,
– demütigenden Mobbing-Erfahrungen in der Schule,
– Angst- und Freudenzuständen,
– tiefen Verletzungen in der Ersten Liebe,
– überbordenden Glücksgefühlen nach einem gewonnenen Schwimmwettkampf,
– tiefer Genugtuung über ein selbst geschriebenes, aber nie veröffentlichtes Gedicht,
– warmherziger Zuneigung der alten Nachbarin,
– bizarr zuckenden Gedankenblitzen…
nach der geglückten Herzoperation!
Alles unter einer Schädeldecke! Alles!